Kirchenvisitation

1. Kirchliche Visitation in Jöllenbeck (1533)

„Die Kirspelsluide wißen ouch in irem kirspel
von cheinen nuwen secten, uffror, rottungen oder derglichen.“
Visitationsprotokoll von 1533

Um in der Zeit der Reformationswirren einen zuverlässigen Überblick über die kirchlichen Verhältnisse in seinem Land gewinnen zu können, ließ der unentschlossene Landesherr Graf von Ravensberg, Herzog Johann III. von Kleve-Mark, zur Durchsetzung der neuen Kirchenordnung vorsichtshalber eine landesherrliche Visitation als Kontrollinstrument für alle ländlichen Ravensberger Gemeinden abhalten und knüpfte damit an die bischöfliche Aufsichtspflicht an. Verantwortungsbewußte Visitatoren sollten sich in den entfernteren Kirchspielen direkt vor Ort mit eigenen Augen ein realistisches Bild von den kirchlichen Zuständen machen und dem Herzog über mögliche Unruheherde, Rotten und Sekten Bericht erstatten.

Zu Visitatoren hatte der Herzog Vertrauensleute wie den Junker von Daun-Oberstein, herzoglicher Statthalter von Ravensberg; den um die fünfunddreißig Jahre alten herzoglichen Rat und Propst Johann von Vlatten und Matthias von Altenbochum, Drost zu Hörde, ernannt. Am selben Tag erschien die Kommission in Bielefeld, der Hauptstadt von Ravensberg und demSitz der ravensbergischen Landesverwaltung. (1) Als nächstes Ziel wurde Schildesche angesteuert, dann Jöllenbeck. Schon von weitem sahen die berittenen Beamten den Kirchturm mit dem hohen Spitzhelm.

 

Rechts und links der ausgefahrenen Wege - mal näher, mal weiter - fielen die neugierigen Blicke der Männer auf strohgedeckte Fachwerkhäuser. Endlich hielten die Reiter vor dem bäuerlichen Pfarrhaus, nahe des fast dreihundert Jahre alten Gotteshauses, nicht weit von dem stattlichen Meierhof zu Jöllenbeck. Pastor Johan de Belschen, der Küster und einige angesehene Kirchspielsleute warteten schon ungeduldig auf den hohen Besuch.

Einige Kirchspielsleute wurden von den Visitatoren nach der Amtsführung und dem Lebenswandel ihres Geistlichen vernommen. Doch die Jöllenbecker Laien
„wißen nit anders, dan das sich der pastoir in sinem predigen nach m.g.H. ordnung und sunst recht halde und beschwert sie ouch nit ungeburlich. Hat eine olde magt, damit er nit stuprirt ist.“

Da die fromme Gemeinde sich ihren Pastor nicht aussuchen durfte, verfügte sie nur über wenige Möglichkeiten, ihn zu beaufsichtigen. Wie schon in den anderen Kirchspielen des Amtes Sparrenberg wußten auch die angesehenen Jöllenbecker

„von cheinen nuwen secten, uffror, rottungen oder derglichen“

zu berichten.

Kirchenbücher und Kirchenrechnungen wurden auf Unregelmäßigkeiten überprüft,Mängel und Fehlverhalten notiert. Schließlich mußten die eifrigen Beamten feststellen, daß der tüchtige Geistliche, für seine Rolle von seinen Schildescher Vorgesetzten sorgfältig ausgesucht,

„wiß ouch in sinem kirspel von cheinen nuwerungen, rottungen und ist ouch zimlich geschickt“.(2)

In Jöllenbeck herrschten also Ruhe und Ordnung; Ansätze von reformatorischen Umtrieben gab es hier nicht.
Quellen:

1 Vgl. Alois Schröer: Die Reformation in Westfalen. Der Glaubenskampf einer Landschaft, Bd. 1, Münster 1979, S. 272 f.
2 Adolf Schmidt (Hrsg.): Protokoll der kirchlichen Visitation der Grafschaft Ravensberg vom Jahre 1533, in: Jahrbuch des Vereins für die Evangelische Kirchengeschichte Westfalens 6 (1904), S. 146.
Bildnachweis:

1 Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, Privatarchiv Kassing
2 Stadtarchiv Bielefeld

 


 

2. Reformation

Ein inneres Erlebnis nach religiöser Neuerung hat es bei den Bauern und Heuerlingen in Jöllenbeck wohl nicht gegeben, denn noch hundert Jahre später fanden sich bei ihnen die Reste katholischer Rituale, wenn sie dem Evangelium nicht direkt zuwider waren. So wurden 1652 von den Geistlichen in Jöllenbeck noch Kaseln getragen und in der Kirche lateinisch gesungen.

Die Zugehörigkeit zur Kirche war keine freie Wahl, sondern Zwang und alternativlos. Eine echte Glaubensentscheidung blieb dem Einzelnen so erspart. Im täglichen Leben war die Kirche Tröster und Schützer. Sie regelte Geburt, Heirat und Tod. Außerhalb der Kirche gab es kein Heil. Über die Konfession seiner Untertanen entschied der Landesherr.

Allmählich setzte sich das evangelisch-lutherische Bekenntnis auch auf dem flachen Lande durch. Jubelnd begrüßten die Leute auf dem Lande die Reformation nicht. Nur langsam vollzog sich ein Stimmungswandel.

Die Leute konnten weder schreiben noch lesen. Luthers Gedankenwelt blieb ihnen daher verschlossen. Widerstand gab es nicht. Von großer Bedeutung war, daß die meisten katholischen Seelsorger nach Anschluß an die neue Lehre in ihren Pfarreien blieben.So wurde 1576 in Jöllenbeck unter Pastor Johan von Evessen, die erste evangelische Kanzel in Jöllenbeck eingerichtet.

Ein Jahr später baute die wachsende Gemeinde eine Empore an. Das kirchliche Leben veränderte sich in Jöllenbeck allerdings nur wenig. Eher nahm es seinen gewohnten Gang. Die Abendsmahlfeier nannte man nun Messe. Auf dem Altar brannten die Kerzen und der Pastor trug wie immer sein Meßgewand. Es blieb weiterhin die Pflicht der Gemeinde, für ihren Pastor zu sorgen.

1523 verfaßte Martin Luther eine erste lateinische Messordnung, die Formula Missae et Communionis pro ecclesia Wittenbergensi, eine gereinigte Form der Messe.

Erst relativ spät, im Jahre 1526, erschien auf Drängen von Nikolaus Hausmann die Deutsche Messe- und Gottesdienstordnung. Diese war vor allem als Sonntagsgottesdienst für Laien gedacht, die kein Latein verstanden. Daneben war aber weiterhin die lateinische Messe, vor allem an Festtagen, vorgesehen.

Luther war wichtig, daß seine Meßordnungen nicht als allgemein verbindlich angesehen werden sollten. Vielmehr sah der Reformator sie als Beispiele eines evangeliumsgemäßen Gottesdienstes.
Quellen:

H. Eickhoff: Kirchen- und Schulgeschichte, in: H. Tümpel (Hg.): Minden-Ravensberg unter der Herrschaft der Hohenzollern, Bielefeld 1909.
Vgl. A. Schröer: Die Reformation in Westfalen, Bd. 1, Münster 1979.

Bildnachweis:

Privatarchiv Kassing, HV-Jöllenbeck
Stadtarchiv Bielefeld


 

3. Kirchenstühle

Kirchenstühle, Emporen und Chorgestühl in der alten Jöllenbecker Marienkirche

 

„Es wird das Verbot in Erinnerung gebracht

sich des Schiebens und Drängens auf den Priechen

bei empfindlicher Leibesstrafe zu enthalten.“1

 

Für die Bewohner des Jöllenbecker Kirchspiels galt der sonntägliche Kirchenbesuch als selbstverständlich. Der arbeitsfreie Sonntag war der geistliche Höhepunkt der Woche. Ein einheitliches Kirchengestühl gab es vor der Reformation vermutlich noch nicht;2 die Gläubigen verfolgten stehend oder kniend den Gottesdienst. Für den Küster und die beiden Provisoren (Presbyter) stand an der südlichen Längsseite des Chorraums ein mit einem „ausgeschnitzten Verdeck“ versehenes Chorgestühl bereit, das mit seinen klappbaren Stühlen (Mettenstühle) und den Armlehnen den Kirchenbediensteten eine bequeme Sitzgelegenheit bot.3

Den Besuch des Gotteshauses nutzten die frommen Besucher als Möglichkeit des Austausches von Neuigkeiten und intensiver Kommunikation; die Leute verabredeten sich und planten Feiern und Feste als Ausgleich zum harten Arbeitsleben. Die in der Kirche leuchtenden Wachskerzen gewann man aus den wilden Bienenstöcken der gemeinen Marken. Das hohe Kirchenschiff - Kern des Gotteshauses - bildete den einzigen Versammlungsraum des Kirchspiels. Der große Raum wirkte auf das Gemüt der schreibunkundigenLeute, die ver mutlich schon auf einen Kirchenaltar blickten, der ihnen in einfachen geschnitzten oder gemalten Bildern seine christliche Botschaft erzählte.

Die relativ späte Einführung der Reformation in Jöllenbeck war ein allmählicher und schleichender Vorgang und kann daher nicht auf ein bestimmtes Datum festgelegt werden. Mit der Reformation änderten sich auch die Ausstattung der Kirche und die Rituale des Gottesdienstes. Die Gestaltung des Kircheninnenraumes oblag der Gemeinde. Die neue Predigt erhielt eine zentrale Bedeutung im deutschsprachigen Gottesdienst, der nur noch an den Sonn- und Feiertagen stattfand.

Die Errichtung von Sitzmöbeln sollte daher das Herumlaufen oder Verlassen der Kirche verhindern und die Konzentration auf die nicht selten lange Predigt fördern. Die neue Sitzordnung ermöglichte auch die genaue Kontrolle der Frauen und Männer, die die Kirche durch eigene Eingänge betraten. Zudem offenbarte die geographische Lage des jeweiligen Kirchenstuhls den sozialen Rang seines Besitzers innerhalb der kirchlichen und weltlichen Hierarchien.

Im Jahr 1577 errichteten fleißige Handwerker für die wachsend Gemeinde erstmals eine offene Empore (Prieche) als Zwischengeschoß. Im Westteil der Kirche bauten Zimmerleute als zweite Etage eine Holzkonstruktion mit etwa fünfundachtzig erhöhten Sitzplätzen ein. So konnten weitere Gläubige am Gottesdienst teilhaben und bequem die Predigt verfolgen. In die Brüstung der neuen Empore schnitzte ein kundiger Handwerker einige Wörter in plattdeutscher Sprache und die Jahreszahl 1577.4 Die Sitze auf der südlichen Seite der Prieche kaufte die Niederbauerschaft auf.5 Betraten die Gläubigen den Mittelgang der Dorfkirche, erblickten sie auf den linken Bankreihen die Frauen und Mädchen, auf den rechten die Männer und Knaben. Moral und Sitte ließen Frauen und Männer getrennt sitzen. Für die Bauern, Leibzüchter und Heuerlinge standen in der alten Jöllenbecker Kirche überwiegend Familienkirchenstühle zur Verfügung; Mägde und Knechte hockten auf der 1577 errichteten Holzprieche, der 1654 im nördlichen Seitenschiff eine weitere folgte. Von den ärmeren Bewohnern wagte es keiner, auf den vorderen Kirchenbänken der Bauern Platz zu nehmen.

Die neben der Kanzel nach Süden stehenden Kirchenstuhlreihen hatten einmal den Männern gehört. Es waren billige Stühle, die überwiegend vom unverheirateten Gesinde besetzt wurden und selbst nicht gekauft werden konnten. Nur der Bauer durfte einen solchen Stuhl auf den Namen seiner Frau mieten. Zu den billigen Stühlen gehörten auch die Sitze an den Seiten, in den Ecken, an den Türen und jene, von denen man den Altar nicht sehen konnte. Die zahlreichen Angehörigen der unterbäuerlichen Schichten, die im kleinen Gotteshaus nicht selten ohne Sitzplatz blieben, hockten in der Regel auf den billigen hinteren Bänken.6 Eigentümer der Stühle blieb die Kirche, ohne deren Erlaubnis der Sitz weder verliehen, verkauft oder getauscht werden durfte. Starb ein Kirchenstuhlbesitzer ohne einen Erben zu hinterlassen, fiel der Stuhl zurück in den Besitz der Kirche.

Schauten die im Mittelschiff sitzenden Kirchenbesucher nach oben, sahen sie die auf Säulen ruhenden kuppelartigen Gewölbe; die auf der 1577 erbauten hölzernen Empore im Westteil der Kirche und die auf der 1654 errichteten Prieche im schmalen nördlichen Seitenschiff hockenden Gläubigen erblickten das Kreuzgewölbe mit den Rippen und den Schlußsteinen. Der hölzerne Taufstein befand sich schräg links neben dem Altar, vor und daneben lagen die Grabsteinplatten der verstorbenen Predigerfamilien. Freie Plätze wird es in dem überfüllten und fast schmucklosen Gotteshaus nicht gegeben haben. Die im Winter unbeheizte Kirche bildete auch lange Zeit den regulären Ort des Konfirmandenunterrichts. In der Kirchenmitte hing ein schwarz und blau angestrichener achtarmiger Holzkronleuchter, der, wie die aufgestellten und aufgehängten Leuchter, vom Küster mit Wachskerzen versorgt werden mußte. Die weniger kostbaren Talglichter nutzte man für die dauerhaften Beleuchtungen.

Da die zahlreichen Kirchensitze des Gotteshauses nach Gutdünken vermietet oder verkauft werden konnten und für die Kirche eine wichtige und regelmäßige Einnahmequelle darstellten, fertigte der Adjunktus und spätere Pastor Joachim Henrich Hagedorn (1707-1768) noch 1733 in einer mehrstündigen Sitzung eine grobe Skizze der Kirchenstuhlreihen, Emporen und des Chorgestühls an. 

Im Jahr 1746 errichteten Handwerker im südlichen Seitenschiff der Marienkirche eine weitere Holzempore, so daß für die fast eintausendneunhundert Gläubigen über fünfhundert Sitzplätze bereitstanden.8 Alle Emporen wiesen eingeschnitzte Jahreszahlen und kurze plattdeutsche Inschriften auf, gelegentlich auch das Ravensberger Wappen neben den Buchstaben, die die Besitzer der einzelnen Stühle auswiesen. Nicht selten wurde auf den hölzernen Priechen geschoben und gedrängt, was verboten war und zu empfindlichen Leibesstrafen führen konnte.9 Für einen weiteren Einbau von Sitzmöglichkeiten gab es jedoch weder im Mittelschiff, noch in den beiden Seitenschiffen sowie auf dem Chor keinen ausreichenden Platz mehr. Ebenso galt eine mögliche Erweiterung des alten Kirchengebäudes als problematisch. Bis zur Einweihung einer neuen Kirche, am 29. November 1854, sollte allerdings noch über ein Jahrhundert vergehen. Ende 1854 hatte Jöllenbeck fast viertausenddreihundert Einwohner.10


 

ANMERKUNGEN

1 Wilhelm Sudbrack: Einige Edikte und Verordnungen, die in den Jahren 1772-1805 in der Kirche zu Jöllenbeck publiziert worden sind, in: RB 8 (1908), S. 20.

2 Vgl. Josef Grünewald: Die Rechtsverhältnisse an Kirchenstühlen in ihrer grundsätzlichen Auffassung nach staatlichem und kirchlichem Recht besonders in Preußen, Paderborn 1927, S. 3 f.

3 Vgl. Gertrud Angermann: Die alte Kirche in Jöllenbeck, in: Walter Kleine-Doepke (Hrsg.): Heimatbuch Jöllenbeck, Detmold [1954], S. 29; vgl. Gertrud Angermann: Unsere Friedhöfe, in: Walter Kleine-Doepke (Hrsg.): Heimatbuch Jöllenbeck, Detmold [1954], S. 46; vgl. Erich Kassing: Verlorene Welt. Jöllenbeck. Eine Dorfgeschichte 1191-1500, Mscr. Hamm 2015, S. 44 f., 47.

4 Vgl. Johann August Stender: Alt-Jöllenbeck im Bild, Bd. 1, Masch. Bielefeld-Jöllenbeck 1973., S. 22; vgl. Johann Friedrich Wilhelm Aufderheide: Chronik von Jöllenbeck 1855-1881, Masch., übertragen von Ingrid Kamp-Aufderheide, Bielefeld 1978, S. 8; vgl. Erich Kassing: Verlorene Welt. Jöllenbeck. Eine Dorfgeschichte 1500-1700, Mscr. Hamm 2016, S. 60 f.

5 PAJ, Joachim Henrich Hagedorn: Kirchenstuhlverzeichnis ab 1726, Jöllenbeck 1730, zit. nach Stender: Alt-Jöllenbeck, S. 21.

6 Vgl. Angermann: Die alte Kirche, S. 24, 30 ff.

7 PAJ, Kirchenstuhlverzeichnis, S. 126.

8 Vgl. Angermann: Die alte Kirche, S. 24; PAJ, Joachim Henrich Hagedorn: Successoribus!, Jöllenbeck ab 1742, S. 230 (Einwohner im Jahr 1752: Oberbauerschaft 908, Niederbauerschaft 958).

9 Vgl. Sudbrack: Einige Edikte und Verordnungen, S. 20.

10 Chronik der Gemeinde Jöllenbeck, in: JB 15 (1983), S. 1554.

BILDNACHWEIS

1 Albert Ludorff: Die Bau- und Kunstmäler des Kreises Bielefeld-Land,

Münster 1906, S. 18.

2 PAJ: Kirchenstuhlverzeichnis.

ABKÜRZUNGEN

JB Jöllenbecker Blätter

PAJ Pfarrarchiv Jöllenbeck

RB Ravensberger Blätter

© Erich Kassing 2020
 

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